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DESWEGEN IST PUTINS BILANZ EINE KATASTROPHE

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RUSSLAND VOR DER KATASTROPHE?
"SIE ALLE LEBEN IN ANGST, DASS PUTIN SIE UMBRINGT"

 * 

InterviewVon Marc von Lüpke

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Aktualisiert am 23.01.2023 - 17:27 UhrLesedauer: 8 Min.
Unsere Interview-Regel
Unsere Interview-Regel

Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend
bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.


Wladimir Putin mit Dimitri Medwedew: Putins Umfeld lebt in Angst vor ihm, sagt
Historiker Stéphane Courtois. (Quelle: Mikhail Metzel/imago-images-bilder)


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Eigentlich sollte die Ukraine längst bezwungen sein, stattdessen gehen die
Kämpfe weiter. Warum? Weil Wladimir Putin die Dinge nicht mehr unter Kontrolle
hat, urteilt der Historiker Stéphane Courtois.



Fast ein Jahr ist vergangen, seit russische Truppen in die Ukraine einfielen,
Wladimir Putin ist seitdem gefürchteter als je zuvor. Ist die Angst aber
berechtigt? Putins Erfolge seien mehr als überschaubar, urteilt der Historiker
Stéphane Courtois. Im t-online-Interview erklärt der Experte, wie sich der
frühere KGB-Mann Russland untertan machte, warum der Westen alle Warnungen
ignorierte und welche Sprache Putin als einzige verstehen würde.

t-online: Professor Courtois, Wladimir Putin gilt als ziemlich gerissen, nun
sind seine Pläne am Widerstand der Ukraine bislang gescheitert. Wie konnte sich
der Kremlchef so verkalkulieren?

Stéphane Courtois: Eigentlich ist Wladimir Putin ziemlich inkompetent, dazu auch
noch unfassbar arrogant.


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Nun beherrscht Putin Russland aber seit mehr als zwei Jahrzehnten. Das spricht
dafür, dass er weiß, wie er seine Ziele langfristig erreichen kann.

Putin ist einfach nicht mehr der Alte. Ja, er hat sich Russland ohne Skrupel
untertan gemacht. Aber wie lautet Putins Fazit der letzten zwölf Monate? Bei
Kriegsbeginn wollte er Kiew im Handstreich einnehmen. Fehlanzeige! Dann dachte
Putin, dass die Europäische Union stillhalten würde, während er die Ukraine
überrollt. Fehlanzeige! Die Nato sei "hirntot", die Amerikaner würden sich aus
Europa hinausdrängen und die ukrainische Regierung unter Wolodymyr Selenskyj als
ein Haufen von "Nazis" hinstellen lassen. Fehlanzeige, Fehlanzeige und nochmals
Fehlanzeige! Putins Bilanz ist eine einzige Katastrophe, er steuert Russland mit
rasender Geschwindigkeit auf den Abgrund zu.

Sprechen wir zunächst aber über den Beginn von Putins Karriere. In Ihrem bald
erscheinenden "Schwarzbuch Putin" schreiben Sie, dass sein Aufstieg
"kometenhaft" gewesen sei. Wie war es möglich, dass ein rangniederer ehemaliger
KGB-Offizier es bis in den Kreml schaffte?



Putin hat den KGB niemals verlassen. "Einmal Tschekist, immer Tschekist", heißt
es in Russland.

Stéphane Courtois, Jahrgang 1947, ist Historiker und Forschungsleiter am Centre
National de la Recherche Scientifique der Universität Paris Nanterre. Courtois
ist Experte für die Geschichte des Kommunismus, 1998 gab er das viel diskutierte
"Schwarzbuch des Kommunismus" in Deutschland heraus. Am 26. Januar 2023
erscheint nun das "Schwarzbuch Putin", das er mit Galia Ackerman publiziert.

Die 1917 gegründete und bald überaus gefürchtete Tscheka war ein Vorläufer des
sowjetischen In- und Auslandsgeheimdienstes KGB.

Genau. Geheimdienstmitarbeiter im Ruhestand? So etwas gibt es nicht. Das gilt
erst recht für Wladimir Putin. Der KGB war seine Schule, seine Universität,
diese Organisation hat Putin geprägt wie keine andere. Blicken wir zurück: Am
20. August 1991 will Putin den KGB im Range eines Oberstleutnants verlassen
haben, bereits 1998 übernahm er dann die Leitung des Nachfolgers FSB, schon 1999
wurde er Ministerpräsident. Wie konnte das geschehen? Putin war ein Nichts, ein
Niemand – so schien es zumindest an der Oberfläche. Tatsächlich müssen Leute
weit über Putin die Fäden gezogen haben.



Das müssen Sie erklären.

"Putin ist Oberstleutnant, aber über ihm gibt es Generäle", so drückte es einmal
sinngemäß der Dissident Wladimir Bukowski aus. Meine Vermutung lautet, dass zum
Ende der Sowjetunion hin eine Art "aktive Reserve" aus KGB-Leuten gebildet
worden ist – deren Ziel in der Unterwanderung des neuen Staatsapparats bestand.
"Ich möchte darauf hinweisen, dass die Gruppe der FSB-Offiziere, die zur
Infiltration der Regierung entsandt wurde, zunächst ihre Aufgaben erfüllt",
bemerkte Putin höchstselbst im Dezember 1999. Ausgerechnet am sogenannten Tag
des Tschekisten.

Es soll sich um eine Art Scherz gehandelt haben.



Daran habe ich meine Zweifel. Putin ist ein waschechter Homo sovieticus, zudem
auch noch vom KGB sozialisiert. Als er 1998 Direktor des FSB wurde, verglich er
es mit der Rückkehr in sein Elternhaus. Der damalige russische Präsident Boris
Jelzin hatte sicherlich zuvor einige Vereinbarungen mit den mächtigen
Strippenziehern des KGB – beziehungsweise des FSB – bezüglich Putins Berufung
getroffen.

Putins "Verbundenheit" zum Geheimdienst war also die eine Säule seines
Aufstiegs, wie steht es aber um die Verbindungen zur russischen Unterwelt?

Putin unterhielt früh beste Beziehungen zur Mafia. Von 1991 bis 1996 leitete er
in St. Petersburg für seinen alten Mentor Anatoli Sobtschak, der mittlerweile
Bürgermeister der Stadt geworden war, ein Komitee, das mit den
Handelsbeziehungen zum Ausland betraut gewesen ist.




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Stéphane Courtois: Putin habe sich verrannt, urteilt der Historiker. (Quelle:
Bruno Klein)

Eine Position, die sich als sehr einträglich erweisen kann.

Besonders in St. Petersburg, die Stadt war damals wie Chicago während der
Prohibition: Es wurde gestohlen und gemordet. Besonders wichtig war die
Kontrolle des Hafens, denn über St. Petersburg liefen wichtige Warenströme. Und
mit eben derjenigen Bande, die den Hafen kontrollierte, war Putin bestens
vernetzt. Es ist sehr wichtig, dass wir diese Zeit in seiner Biografie verstehen
– denn es erklärt viel von dem, was später passierte: Damals kam Putin zu Geld,
verschaffte sich einen Clan aus Getreuen und fand Gefallen an der Macht.

Derer er allerdings verlustig ging, als Sobtschak 1996 das Rathaus in St.
Petersburg nach einer Wahlniederlage räumen musste.

Sobtschak hatte es mit der Korruption zu weit getrieben. Putin zog aber eine
entscheidende Lehre aus dem Debakel: Traue niemals einer Demokratie! Das
verträgt sich auch mit der Mentalität der KGB-Leute, wie Putin einer ist – sie
glauben nur an die Macht des Staates. Dieser Glaube an die Staatsmacht ist eine
Konstante in der Geschichte Russlands im Allgemeinen und in der des Kommunismus
im Speziellen.

Erklärt dies auch die weitgehend unterbliebene Entwicklung Russlands hin zu
einer Zivilgesellschaft?

Absolut. Bereits der Revolutionsführer Lenin zeigte seit 1917, wie der
Kommunismus in der Praxis aussehen sollte. Einer Gruppe von Berufsrevolutionären
mit allen Mitteln die Macht zu verschaffen – und sie für alle Zeiten zu
bewahren. Diesem Zweck diente die bereits erwähnte Tscheka, diesem Zwecke diente
der KGB und heute auch der FSB. Der Kommunismus ist passé, aber Putin betreibt
dessen Form der Staatsführung weiter. Mit einer Neuerung: Die Regierung wurde
durch mafiöse Gruppen ergänzt, die ebenfalls für eine Stabilisierung des Systems
sorgen.

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"Schwarzbuch Putin" von Stéphane Courtois und Galia Ackerman


Erscheint am 26.01.2023.

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Bleiben wir kurz bei Putins Werdegang: Nach dem Abschied aus St. Petersburg 1996
begann sein Aufstieg erst richtig, er avancierte 1998 zum Chef des FSB, wurde
schließlich Ministerpräsident und gar Staatsoberhaupt Russlands.

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Putin war diskret, loyal und zu allem bereit. So jemanden wie ihn konnte man in
Moskau gut gebrauchen. Er kann sich gut verstellen, das muss man ihm lassen.

Auch der Westen war mit der Machtübernahme Putins in Russland höchst zufrieden,
im Bundestag wurde er nach seiner Rede 2001 gefeiert. War das alles Schauspiel?

Putin ist ein Geschöpf des KGB – und der KGB dachte langfristig. Wie der
Kommunismus insgesamt, der sich durch eine strategische Vision auszeichnet.
Schauen wir auf die Fakten: Als Putin 2000 Präsident geworden ist, war das
gesamte zukünftige Programm bereits da: Eine geradezu paranoide Vorstellung,
dass Russland von allen Seiten bedroht sei, die Vorstellung, dass nur autoritäre
Maßnahmen die Lage bessern könnten und sogenannte Gegner ausgeschaltet werden
müssten. Da Russland zu dieser Zeit aber schwach gewesen ist, spielte Putin erst
einmal den lieben Kerl.

Der ihm auch lange Zeit abgekauft worden ist. Trotz des brutalen Krieges gegen
Tschetschenien zu dieser Zeit.

Der Westen wollte nicht allzu genau hinsehen, Putins schauspielerische Leistung
war aber auch perfekt. Wissen Sie, was die Spezialität des KGB war?
Manipulation. 2008 schien Putin die russische Verfassung zu achten, indem er
nicht zum dritten Mal in Folge als Präsident antrat. Stattdessen zog Dimitri
Medwedew in den Kreml, er war nichts als Putins Schoßhündchen. Der dem Westen
erzählte, was dieser hören wollte. Märchen von Demokratie, Menschenrechten und
so weiter.



Heute droht derselbe Medwedew dem Westen mit nuklearer Vernichtung.

Der Westen ließ Putin mehr als zwanzig Jahre fast freie Hand. Was heute
geschieht, ist die Konsequenz. Putin versteht nur Härte, Härte, Härte – so
einfach ist das. Putin führte ab 1999 Krieg gegen Tschetschenien, 2008 gegen
Georgien, im syrischen Bürgerkrieg griff das Regime 2015 ein. Von der Annexion
der ukrainischen Krim 2014 und dem Krieg in der Ostukraine noch ganz abgesehen.
Wozu raffte sich der Westen als Reaktion angesichts der Übergriffe auf die
Ukraine auf? Ein paar Sanktionen. So etwas tat Putin überhaupt nicht weh, im
Gegenteil: propagandistisch ließ es sich bestens ausschlachten.

Die schwache Reaktion des Westens ermutigte Putin dann entsprechend.

Die Ukraine ist Putins Obsession. Am liebsten will er sie Russland wieder
einverleiben. Er betrachtet sie als Teil der "Russischen Welt", andererseits ist
die Ukraine eigentlich ein reiches Land – sie verfügt über Industrie und
Bodenschätze, aber vor allem ihre Landwirtschaft ist von großer Bedeutung. Putin
ist genau genommen ein Gangster, der sich seine Beute holen will. Während er
historischen Vorbildern wie Peter dem Großen nacheifert und Russlands Grenzen
erweitert.



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"Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein eurasisches Imperium zu sein", sagte
der polnisch-amerikanische Politologe Zbigniew Brzeziński einmal.

So sieht es Putin, so sah es auch Josef Stalin. Stalin war allerdings viel
schlauer als Putin, denn Erstgenannter lernte aus seinen Fehlern. Und nahm in
den richtigen Momenten wieder Kontakt mit der Realität auf. Putin hingegen hat
sich mittlerweile völlig verrannt. Er dachte, dass seine Armee nahezu die
stärkste der Welt sei. Was davon zu halten ist, haben die ukrainischen
Streitkräfte hinlänglich bewiesen. Putin nahm auch an, dass die
russischsprachigen Ukrainer seine Truppen willkommen heißen würden. So kam es
aber nicht.

Putin begründet seine angeblichen Ansprüche auf die Ukraine mit einer
pseudohistorischen Argumentation. Glaubt er tatsächlich daran?

Ich befürchte es. Tatsächlich ist Putin ein mieser Historiker, unfähig, die
richtigen Schlüsse aus der Geschichte zu ziehen. Der frühere französische
Präsident Charles de Gaulle war durch und durch Nationalist, aber er kam zu der
Einsicht, dass der Krieg gegen die Aufständischen im damals von Frankreich
beherrschten Algerien beendet werden musste. So herrschte seit 1962 Frieden.
Polen, Tschechien oder die Staaten des Baltikums zum Beispiel, sie alle haben
mit dem Kommunismus und seiner Herrschaftsform abgeschlossen. Russland hingegen
hat niemals herausgefunden.


Alexei Navalny: Der Putin-Gegner wurde zu einer langen Haftstrafe verurteilt.
(Quelle: Sergei Karpukhin/imago-images-bilder)

Seit Putins Amtsantritt wurden Regimekritiker ermordet, gingen ins Exil oder ins
Straflager, wie zuletzt Alexei Nawalny. Könnten nun die eigenen Gefolgsleute
Putin gefährlich werden angesichts der Niederlagen in der Ukraine?

Sie alle leben in Angst, dass Putin sie umbringt. Deswegen überbieten sie sich
in radikalen Äußerungen, die ihre Loyalität demonstrieren sollen.

Die schrillen Töne aus Moskau flankieren den sich immer weiter hinziehenden
Krieg in der Ukraine. Sollte der Westen nicht lieber früher als später massiv
schwere Waffen wie Kampfpanzer an die ukrainische Armee liefern, damit die
Kämpfe ein Ende finden?

Ein schnelles Ende des Krieges wäre mehr als wünschenswert. Wir dürfen auch
nicht vergessen, dass alle Autokraten genau beobachten, wie der Westen reagiert.
Kim Jong-un aus Nordkorea zum Beispiel, aber wir müssen gar nicht so weit in die
Ferne blicken. Recep Tayyip Erdoğan wartet in der Türkei genau wie andere
Diktatoren auf den Tag, an dem das liberale und demokratische System des Westens
am Ende sein wird. Ob diese Dramatik in Regierungszentralen wie Paris und Berlin
angekommen ist? Ich bezweifle es. In Europa herrschte lange Zeit Frieden, es
gibt kein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass man seine Freiheit im
Zweifelsfall mit der Waffe in der Hand verteidigen muss.



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Wird Deutschland diese Lektion schnell genug lernen? Insbesondere bei Teilen der
regierenden Sozialdemokraten von Bundeskanzler Olaf Scholz sind die Vorbehalte
gegen die Lieferung von Kampfpanzern groß.

Wir werden sehen. Im Augenblick sollten wir den Amerikanern sehr, sehr dankbar
sein. Ohne sie stünden Putins Truppen an der polnischen Grenze. Und
selbstverständlich gebührt den ukrainischen Streitkräften höchste Anerkennung.
Nicht zuletzt sollten wir uns auch bei der allgegenwärtigen Korruption rund um
die russische Armee bedanken: Auch deswegen erleidet Putin Niederlage um
Niederlage.

Wenn sich der Krieg derart schlecht für Russland weiterentwickelt: Würde es das
Ende Putins bedeuten?

Wir wissen es schlichtweg nicht. Aber eines ist gewiss: In Russland ist alles
möglich. Im Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution 1917 kämpfte die Rote Armee,
also die Bolschewiki, gegen die Weiße Armee, die wiederum Antikommunisten waren,
dann gab es die sogenannte Grüne Armee, ferner Streitkräfte verschiedener
Ethnien. Um es verknappt auszudrücken. Es war ein großes Chaos.

Wie lange kann denn überhaupt die gegenwärtige russische Armee den Krieg
fortsetzen?



Ab einem bestimmten Punkt könnte die Stimmung bei den russischen Streitkräften
kippen. Dann würde die Armee den Aufstand proben. Alles ist denkbar. Denn viele
russische Generäle halten diesen Krieg für ausgesprochen dumm.

Tagesanbruch: Die nächste Kriegsdrohung vor unserer Haustür
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Professor Courtois, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
 * Persönliches Gespräch mit Stéphane Courtois via Videokonferenz

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