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02.09.2021


EUGH ZUR BUNDESNETZAGENTUR: EXPERTEN SPRECHEN VON „EPOCHALEM URTEIL“

Seit Monaten fiebert die Energiebranche der Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofs entgegen. Nun erklärt der EuGH mit ihr weite Teile des deutschen
Energierechts für EU-rechtswidrig. Der Bundesnetzagentur fehle es an
Unabhängigkeit vom Gesetzgeber. JUVE hat führende Regulierungsrechtler um ihre
Einschätzung gebeten. Erste Reaktionen zeigen, wie drastisch sich die Rolle der
Bundesnetzagentur und das deutsche Regulierungssystem ändern könnten. 



Die Bundesnetzagentur, als Regulierer unter anderem der Strom- und
Gasnetzbetreiber, sieht akut keine Konsequenzen für ihre Arbeit. Sie werde
rechtliche Unsicherheiten in der Übergangsphase so weit wie möglich reduzieren,
teilte sie in einer Stellungnahme mit. „Wir gewährleisten Rechtssicherheit für
die Investitionen, die zur Erreichung der Klimaschutzziele essenziell sind“.

Wie mit dem Urteil insbesondere zur Rolle der Bundesnetzagentur, aber auch zur
Trennung von Energieerzeugung und -versorgung umzugehen ist, dafür ist nun der
Gesetzgeber zuständig. Welche Schwierigkeiten das Thema birgt, zeigen die hier
zusammengetragenen Beiträge einiger im Energiesektor beratender Juristen.

Wiegand Laubenstein

„Die Bundesnetzagentur ist keine Bundesbank“
Die Bundesnetzagentur wird mit diesem Urteil zum unabhängigen
Rechtssetzungsorgan. Dieser Weg ist falsch und darüber hinaus mit
rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar. Denn die Energiewende ist ein
politisches Vorhaben – ihr Gelingen hängt elementar von den Vorgaben des
Gesetzgebers ab. Eine auf Normen, Gesetzen und Verordnungen basierende
Regulierung kann nicht einfach dem Willen des Gesetzgebers entzogen und durch
eine administrative Regulierung ersetzt werden. Eine Bundesnetzagentur ist in
ihrer Arbeit nicht mit einer Bundesbank vergleichbar, die aus Gründen der
Sicherung der Geldwertstabilität der nationalen politischen Aufsicht entzogen
ist. Das Urteil des EuGH gibt Anlass zur Sorge.
Wiegand Laubenstein, seit 2020 Partner bei Rosin Büdenbender in Essen. Davor war
er 14 Jahre Vorsitzender Richter des Kartellsenats am OLG Düsseldorf und dort
vor allem mit den Klagen gegen die Festlegungen der Bundesnetzagentur befasst.

 

Christian von Hammerstein

„Das gesamte deutsche Regulierungssystem muss überarbeitet werden“
Die Entscheidung ist ein epochaler Paukenschlag. Die Macht verschiebt sich vom
Bund zur Bundesnetzagentur. Das hat Auswirkungen auf den Lobbyprozess. Auch der
Rechtsschutz gegen Entscheidungen der Bundesnetzagentur würde sich erheblich
ändern. Die Bundesnetzagentur würde weniger an den Vorgaben des nationalen
Gesetzgebers gemessen werden als am Europäischen Recht. Aber auch die
Bundesnetzagentur wird sich ändern müssen. Der Beirat, über den die Länder
Einfluss zu nehmen versuchen, muss abgeschafft werden. Die
Landesregulierungsbehörden müssen unabhängig aufgestellt oder abgeschafft
werden. Und der gesamte Konzessionswettbewerb, über den über zehntausend
Kommunen in Deutschland auch noch einmal Einfluss auf den Netzbetrieb nehmen,
ist grundlegend zu reformieren.
Christian von Hammerstein, Energierechtspartner bei Raue in Berlin

 

Christian Theobald

„Weitreichende Konsequenzen für Strom- und Gasnetzbetreiber“
Der EuGH hat heute mit seinem Urteil unter die deutsche Energiemarktregulierung,
wie wir sie kennen, einen Schlussstrich gezogen. Für die deutschen Strom- und
Gasnetzbetreiber wird das weitreichende Konsequenzen haben. Nicht nur was das
Regulierungsmanagement betrifft, sondern auch ganz grundsätzlich die
Rechtsschutzmöglichkeiten für die Unternehmen. Wenn sich die Bundesnetzagentur
zukünftig die Vorgaben, die sie anwendet, selbst gibt, und darüber nur eine
abstrakte europäische Richtlinie steht, ist der Rechtsschutz für die Branche
sehr begrenzt. Man kann und muss sich die Frage stellen, ob diese Konsequenz im
Energiebinnenmarktpaket der EU so angelegt ist.
Prof. Dr. Christian Theobald, Partner bei Becker Büttner Held in Berlin

 

Thilo Richter

„Eine toxische Mischung“
Der Entgeltregulierung im Energienetzbereich droht eine weitgehende Lockerung
der normativen Bindungen der Regulierungsbehörde. Wenn zudem die
Ermessensspielräume der Behörde erhöht werden, wie zuletzt der Bundesgerichtshof
zum Xgen-Gas forderte, droht eine toxische Mischung: Der gerichtliche
Prüfungsmaßstab nähert sich weiter einer bloßen Plausibilitätskontrolle an.
Verfassungsrechtlich folgt aus dem EuGH-Urteil der Auftrag an die Gerichte,
wieder genauer hinzusehen, ob die Regulierungsbehörde ihre
Entscheidungsspielräume auf der Grundlage einer hinreichend analysierten
Tatsachengrundlage und vertretbarer methodischer Ansätze nutzt.
Dr. Thilo Richter, Gründungspartner der Kanzlei Leitfeld aus Köln

 

Cornelia Kermel

„Rechtsschutz könnten Aufgabe der Verwaltungsgerichte werden“
Das EuGH-Urteil hat erhebliche Folgen für die Energiewirtschaft. Eine
Aufspaltung der Bundesnetzagentur ist unausweichlich. Aber auch die Grundfesten
des deutschen Verfassungsrechts werden erschüttert. Anstelle einer demokratisch
legitimierten und durch die Exekutive überprüfbaren Entscheidungsgewalt der
Bundesnetzagentur erfordert deren vollständige Unabhängigkeit eine wesentliche
Kontrolle durch die Gerichte. Das vom BGH der Bundesnetzagentur bislang
eingeräumte weite Regulierungsermessen dürfte daher zukünftig einer
vollständigen gerichtlichen Kontrolle weichen. Möglicherweise bietet dies den
Hebel, zukünftig die Verwaltungsgerichte damit zu betrauen. Neben dem
Gesetzgeber wird daher auch die Justiz gefordert sein. Offen bleibt, ob das
Bundesverfassungsgericht bei der zu erwartenden Kontrolle der gesetzgeberischen
Umsetzung erneut die Konfrontation mit dem EuGH suchen wird.
Dr. Cornelia Kermel, Partnerin in der Energierechtspraxis bei Noerr

 

Dirk Uwer

„Das Urteil verschärft die Legitimationskrise der EU“
Das Urteil ist hochproblematisch. Die fehlende Rücksichtnahme des EuGH auf das
mitgliedstaatliche Verfassungsrecht und das Demokratieprinzip könnten die
institutionelle Legitimationskrise der EU weiter verschärfen. Die vom Gericht
geforderte umfassende Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur nicht nur auf der
Exekutivebene, sondern auch vom parlamentarischen Gesetzgeber halte ich für
rechtsstaatlich bedenklich. Das im Energiewirtschaftsgesetz für Netzzugang und
Netzentgelte verankerte Prinzip der normgeleiteten Regulierung leidet bereits
unter einem zu weit verstandenen Regulierungsermessen. Das Urteil droht nun in
diesen grundrechtssensiblen Bereichen mit ihrer erheblichen wirtschaftlichen
Bedeutung für Unternehmen und Endkunden die gerichtlichen Kontrolldichte weiter
zu verringern.
Prof. Dr. Dirk Uwer, Partner bei Hengeler Mueller in Düsseldorf

 

Holger Stappert

„Das Urteil ist unbedingt anzuerkennen“
Aus nationaler Perspektive gibt es gute Gründe, eine Änderung des gegenwärtigen
Rechtsrahmens nicht für notwendig zu halten. Faktisch hatten wir meines
Erachtens eine sehr starke Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden. Der EuGH
entscheidet aber aus einer autonomen europarechtlichen Perspektive.
Europarechtlich betrachtet lag eine Vertragsverletzung durch die Bundesrepublik
Deutschland aber nahe. Das Urteil ist unbedingt anzuerkennen. Kritik daran ist
erlaubt, bringt aber nicht viel. Wir müssen jetzt nach vorne schauen. Die Kunst
wird es sein, dem EU-Recht genüge zu tun und rechtsstaatliche Bedürfnisse in
Einklang zu bringen.
Dr. Holger Stappert, Partner im Energierecht bei Luther in Düsseldorf

 

Claire Dietz-Polte

„Unsicherheit ist dem Energiebinnenmarkt nicht zuträglich“
Das Urteil des EuGH überrascht nicht. Klar ist nun, dass die Unabhängigkeit der
Bundesnetzagentur zu weitgehend beschnitten wurde. Leider gibt das Urteil keine
Antwort darauf, wo genau die Grenze zwischen zulässiger energiepolitischer
Rahmensetzung und unzulässiger Kompetenzbeschränkung verläuft. Hier sind die
Entscheidungen des EuGH in Parallelverfahren abzuwarten. Die Bundesnetzagentur
steht jetzt vor der großen Herausforderung, ihre Rolle als unabhängiger
Regulator neu zu definieren. Dass diese Unsicherheiten dem europäischen
Energiebinnenmarkt nicht zuträglich sind, liegt auf der Hand.
Dr. Claire Dietz-Polte, Partnerin bei Baker McKenzie, Co-Head der deutschen
Energie- und Infrastruktur-Praxis

 

„Ohne wesentliche Auswirkungen auf die Regulierungspraxis“
Die Entscheidung ist ein Paukenschlag, der aber nach den Schlussanträgen des
Generalanwalts nicht ganz überraschend kommt. Wesentliche unmittelbare
Auswirkungen auf die Regulierungspraxis und die Rechtsprechung zum
Regulierungsrecht sind aus meiner Sicht nicht zu erwarten. Spannend wird es
allerdings mit Blick auf die Frage, welche Konsequenzen zur Rechtsstellung der
Bundesnetzagentur die Berliner Politik nach der Wahl aus der Entscheidung des
EuGH zieht. Dabei dürfte aus verfassungsrechtlichen Gründen klar sein, dass ihre
Entscheidungen auch künftig gerichtlich kontrolliert werden können.
Unabhängigkeit bedeutet nicht, dass die Regulierungsbehörden schalten und walten
können, wie sie wollen.
Dr. Thomas Höch, Namenspartner der Kanzlei Höch & Partner aus Dortmund

 

Jacob von Andreae

„Ausländische Investitionen in die deutsche Energieinfrastruktur werden
erschwert“
Das Urteil wird gravierende Folgen für das deutsche Energierecht haben. Nach der
Bundestagswahl ist ohnehin mit einer weitreichenden Umgestaltung des
Energierechts zu rechnen. Nun kommt noch die Stärkung der Unabhängigkeit der
Bundesnetzagentur von politischen Einflüssen und Verordnungsvorgaben hinzu.
Perspektivisch muss dann im Gegenzug die gerichtliche Kontrolldichte wieder
zunehmen. Erhebliche praktische Relevanz wird auch die Feststellung des EuGH
haben, dass der Begriff des vertikal integrierten Unternehmens auch Tätigkeiten
der Energieerzeugung und -versorgung außerhalb der EU erfassen muss. Dadurch
werden ausländische Investitionen in die deutsche Energieinfrastruktur erheblich
erschwert. Hervorzuheben ist aber, dass die Urteilsgründe noch Spielräume bei
der Ausdeutung des Begriffs des vertikal integrierten Unternehmens eröffnen.
Dr. Jacob von Andreae, Partner bei Gleiss Lutz in Düsseldorf

 

Thomas Burmeister

„Bundesnetzagentur muss gestaltende Klimaschutzbehörde werden“
Der EuGH drängt den deutschen Gesetzgeber zum Rückzug, um die Position der
Bundesnetzagentur zu stärken. Dies bedeutet aber vor allem einen Machtzuwachs
für europäische Institutionen, die damit stärker die Leitlinien des behördlichen
Handelns bestimmen können. Der Bundesnetzagentur dürfte daran liegen, dass ihre
Entscheidungen eine ausreichend hohe Akzeptanz unter Marktteilnehmern genießen.
Der auch heutzutage gelegentlich noch zu beobachtende Rückzug auf die Rolle
einer Verbraucherschutzbehörde wird daher nicht mehr genügen, sie muss sich
stattdessen weiter in die aktiv gestaltende Rolle einer Klimaschutzbehörde
begeben.
Thomas Burmeister, Partner bei White & Case in Düsseldorf

 

(Martin Ströder)

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