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Proteste gegen Rechtsextremismus


„SORGE VOR EINEM STURZ DER REPUBLIK“ BRINGT DIE DEUTSCHEN AUF DIE STRASSEN

Deutschlandweit gehen Hunderttausende gegen Rechtsextremismus auf die Straße.
Und auch in der Wirtschaft wächst der Widerstand. Warum die Proteste der AfD
schaden können.
Martin Müller, Dietmar Neuerer, Daniel Delhaes und Jan Hildebrand 21.01.2024 -
16:12 Uhr aktualisiert

Viele Menschen erkennen die Gefahr durch die AfD und gehen nun deshalb
demonstrieren. Foto: IMAGO/Hannelore Förster

Berlin. Nach Bekanntwerden eines Treffens von Rechtsextremen mit Politikern der
AfD und Vertretern der CDU-nahen Werteunion formiert sich breiter Widerstand auf
Deutschlands Straßen. Am Wochenende haben bundesweit mehr als 400.000 Menschen
demonstriert. In München und Hamburg mussten die Kundgebungen wegen Überfüllung
abgebrochen werden. „Die Proteste treffen auf die Sorge vor einem Sturz der
Republik zugunsten eines autokratischen, rassistischen Regimes“, sagt Hajo
Funke, Extremismusforscher an der Freien Universität Berlin. Damit lasse sich
ein großer Teil der Bevölkerung mobilisieren.

Demonstrationen in Berlin. Foto: AP

Die Enthüllungen des Medienhauses „Correctiv“ haben einiges ins Rollen gebracht.
Dass im November vergangenen Jahres in einer Potsdamer Villa unter anderem Pläne
zur Ausweisung von Millionen Menschen aus Deutschland diskutiert wurden, hat
viele in Politik und Wirtschaft entsetzt – und aufgerüttelt.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dankte den Demonstranten ausdrücklich, dass sie
„gegen Rassismus, Hetze und für unsere freiheitliche Demokratie“ auf die Straße
gehen.



„Das macht Mut und zeigt: Wir Demokratinnen und Demokraten sind viele – viel
mehr als diejenigen, die spalten wollen“, schrieb der SPD-Politiker auf der
Plattform X.



CDU-Chef Friedrich Merz sprach von einem Stoppschild gegen jede Form von
Extremismus und Rassismus. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte der
Funke Mediengruppe, die Demokratie werde angegriffen. „Wir müssen sie aktiv
verteidigen.“ Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann schrieb im Internetdienst
Bluesky, es gehe jetzt um ein „Wachrütteln auf der Straße und im Parlament“.

Verwandte Themen BSW Folgen Daimler Truck Folgen Sahra Wagenknecht Folgen SAP
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Bundesverfassungsgericht Folgen Markus Söder Folgen




POLITIKWISSENSCHAFTLER: BUNDESWEITE DEMONSTRATIONEN KÖNNTEN NICHTWÄHLER
MOBILISIEREN

Extremismusforscher Funke hält es für denkbar, dass die Proteste der AfD schaden
können. Ein Drittel bis zur Hälfte der potenziellen AfD-Wähler seien „frustriert
und enttäuscht, aber noch nicht rechtsextrem“. Diese Menschen ließen sich
erreichen. Um den Aufstieg in den Umfragen zumindest zu stoppen, müsse sich die
aktuell weitreichende Proteststimmung aber in lokalen Bündnissen niederschlagen,
sagt der Politikwissenschaftler: „Wenn es gelingt, die Proteste vor Ort stärker
zu verankern, dann werden sie eher noch zunehmen.“

>> Lesen Sie hier: Warum sich Unternehmer dem Protest gegen die AfD anschließen
sollten – ein Kommentar

Der Mainzer Politikwissenschaftler Kai Arzheimer hält noch einen weiteren Effekt
auf die AfD für möglich: Die bundesweiten Demonstrationen könnten Nichtwähler
mobilisieren, gegen die Partei zu stimmen. „Vielleicht können die Proteste
diejenigen, die die AfD nicht wählen würden, dazu bringen, eine andere Partei zu
wählen, statt zu Hause zu bleiben“, argumentiert Arzheimer. Die Kernwählerschaft
der AfD werde sich dagegen weder von den Berichten über das Treffen in Potsdam
noch von den Protesten beeindrucken lassen.


Demonstration gegen die AfD in München. Foto: Getty Images News/Getty Images

In diesem Jahr finden in Sachsen, Thüringen und Brandenburg Landtagswahlen
statt, der Zuspruch für die Partei ist laut Umfragen in allen drei Ländern hoch.
In bundesweiten Wählerumfragen liegt die AfD stabil über 20 Prozent.

Zusätzliche Sorgen dürfte den etablierten Parteien bereiten, dass die neue
Partei von Sahra Wagenknecht, BSW, laut einer Insa-Umfrage im Bund mit sieben
Prozent der Stimmen rechnen kann. Zudem gibt es für die Werteunion, die am
Wochenende den Weg für eine Parteigründung frei gemacht hat, schon ein
Wählerpotenzial von fünf Prozent.

Bauernproteste und AfD


„POPULISTISCH UND VERLOGEN“ – DIE ENTLARVENDE BAUERN-STRATEGIE DER AFD



Warnungen vor völkischem und rechtsextremem Gedankengut sind dabei nicht neu –
vor allem in Bezug auf die AfD. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen werden
die AfD-Landesverbände vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“
eingestuft. Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang warnte, die Demokratie in
Deutschland sei durch verschiedene Entwicklungen in Gefahr.


ÖKONOM HÜTHER: „DIE AFD IST FÜR DIE WIRTSCHAFT EINE ECHTE GEFAHR“

Erfreulicherweise demonstrierten gerade viele Menschen, sagte er der
„Westdeutschen Zeitung“. Haldenwang nannte es „wünschenswert“, wenn die
sogenannte schweigende Mehrheit sich klar gegen Extremismus und Antisemitismus
positioniere.



Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) griff die AfD hart an. „Die
AfD ist nichts anderes als eine rechtsextreme Putin-Partei“, sagte Söder dem
Handelsblatt. „Um es klar zu sagen: Ich halte die AfD für verfassungsfeindlich.“
Der CSU-Chef verwies auf die Diskussion über Deportationspläne, die in Teilen
der AfD geführt wird. „Das ist ein klassisches Nazimodell: nämlich Streit und
bürgerkriegsähnliche Zustände provozieren zu wollen, um sich dann als ordnende
Schutzmacht zu empfehlen.“

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) griff die AfD hart an. Foto:
dpa

Sollten die Behörden eine Verfassungsfeindlichkeit feststellen, erwartet Söder
grundlegende Folgen. „Dann könnten zum Beispiel auffällige AfD-Parteimitglieder
nicht mehr im öffentlichen Dienst arbeiten.“ Das Bundesverfassungsgericht
verhandle zudem derzeit in einem anderen Verfahren, ob bei der NPD öffentliche
Mittel gestrichen werden könnten. „Das wäre auch eine Blaupause für die AfD“,
sagte Söder.

Ein Verbotsverfahren sei dagegen „langwierig und mit erheblichen Risiken
behaftet“. Söder macht für den Aufstieg der AfD auch die Politiker der
Ampelkoalition mitverantwortlich. „Die AfD findet viele Wähler, die einfach
unzufrieden und enttäuscht sind“, sagte der CSU-Chef. „Das beste Mittel gegen
die AfD wäre ein Regierungswechsel in Berlin hin zur Union.“

Auch Vertreter der Wirtschaft beziehen immer deutlicher Stellung. Der Direktor
des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, erklärte zu den
Demonstrationen: „Die Bilder tun gut, sie zeigen, wie stark unsere
Zivilgesellschaft ist.“ Er betonte zugleich mit Blick auf die AfD, dass die
Menschen von der Partei „keine überzeugenden Lösungen“ erwarten könnten. „Die
AfD ist nicht nur für Demokratie und Zusammenhalt, sondern auch für die
Wirtschaft eine echte Gefahr“, schrieb Hüther auf LinkedIn.


IW-Chef Michael Hüther sieht die AfD auch als Gefahr für die Wirtschaft. Foto:
Dominik Butzmann für Handelsblatt

Der Präsident des Münchener Ifo-Instituts, Clemens Fuest, wies auf die
programmatische Vorstellung der AfD hin, aus der Europäischen Union auszutreten,
was er für „hochproblematisch“ halte. „Nationalismus und Abschottung treffen das
Herz des deutschen Geschäftsmodells, solche Forderungen sind
wirtschaftspolitischer Unsinn“, sagte Fuest der „Süddeutschen Zeitung“.

Jochen Hanebeck, CEO von Infineon Technologies, schrieb auf LinkedIn: „Hass und
Ausgrenzung dürfen in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. Die Idee der
sogenannten Remigration ist menschenverachtend.“ Die Chefs von Deutscher Bank,
SAP, Daimler Truck, der Bundesbank und viele andere schlossen sich dem Tenor an.

AfD


TOP-ÖKONOMEN UND MANAGER POSITIONIEREN SICH GEGEN DIE AFD



Für den Politikwissenschaftler Funke sind die in Potsdam diskutierten Pläne in
ihrer Deutlichkeit überraschend. „Die Weichzeichnung der AfD durch verschiedene
Medien, den Bundesvorstand und die Fraktion ist torpediert“, sagt er. Mit dem
Bekanntwerden des Treffens habe es ein Erschrecken über den Charakter der Partei
gegeben. „Wenn die an die Macht kommen, haben wir ein anderes Deutschland.
Dieser Eindruck ist jetzt da.“


PROTESTFORSCHER: DAUERHAFTE MOBILISIERUNG IST SELTEN

Ob die Großdemonstrationen in den kommenden Wochen anhalten, ist unklar. Simon
Teune, Protestforscher an der Freien Universität Berlin, sagt: „Bei
Protestbewegungen ist es sehr selten der Fall, dass über einen längeren Zeitraum
hinweg viele Menschen auf die Straße gebracht werden.“ Bei den Organisationen,
die zu den Demonstrationen aufrufen, handele es sich jedoch um lange bestehende
Netzwerke.



Bei den aktuellen Protesten wird laut Teune vor allem der Unmut über einen
gesellschaftlichen Rechtsruck zum Ausdruck gebracht. Das habe einen sichtbaren
Effekt auf die gesellschaftliche Debatte: „Nicht die Themen der AfD stehen im
Vordergrund, sondern die Gefahren, die von der Partei ausgehen.“

Technologie


START-UPS IN OSTDEUTSCHLAND FÜRCHTEN NACHTEILE DURCH AFD-AUFSTIEG



Bisher werden die Proteste von einer Vielzahl von Bündnissen und Organisationen
initiiert. Das macht es laut Arzheimer schwer, die Empörung in eine dauerhafte
Protestbewegung zu überführen. Eine Kontinuität sieht der Politikwissenschaftler
trotzdem – und erinnert an die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus in den
1990er-Jahren und an die Unteilbar-Bewegung: „Eine gewisse Verstetigung haben
wir eigentlich schon.“

Mehr: Wagenknecht hatte Kontakt zu Initiator von Rechtsextremisten-Treffen

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