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BONAVENTURA

Lektüren eines Nachtwächters

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THE BOOK

“The Book” ist eines der merkwürdigsten Buchprojekte, das mir seit längerem
untergekommen ist (wahrscheinlich seit „Das Schiff des Theseus“). Folgt man dem
Untertitel, so handelt es sich um den „ultimativen Wegweiser zum Wiederaufbau
einer Zivilisation“, was natürlich höchstens ironisch gelesen werden kann. Es
handelt sich um eine Sammlung von um die 200 großformatigen, auf alt getrimmten
Doppelseiten (22,5 cm × 33,5 cm pro Seite, also deutlich über DIN A4), die
jeweils einem Thema gewidmet, graphisch gestaltet und strukturiert und durch
Texte ergänzt sind. Wer sich einen Eindruck von den Seiten verschaffen möchte,
kann sich auf der extra für das Buch erstellten Webseite umschauen. Der Vertrieb
soll wohl hauptsächlich über Direktbestellungen via Internet erfolgen, “The
Book” ist aber auch ganz normal über den Buchhandel zu beziehen.

Wenn man das Buch nur als graphisches Projekt (es wird weder ein Autor noch ein
Übersetzer des Buches genannt) oder als Coffee table book anschaut, ist es ganz
nett geraten und zeigt einige hübsche Einfälle. Mehr als das enthält es leider
nicht. Sprich: Die Texte sind durchweg einfältig und sagen beinahe nichts aus
(es ist wenigstens in der deutschen Ausgabe nicht einmal gelungen, den Text
druckfehlerfrei zu halten). Auch die thematische Auswahl, die ja dem
Wiederaufbau einer Zivilisation dienen soll, ist doch eher merkwürdig. So gibt
es einen Abschnitt „Militär“ mit den Themenseiten „Kampfkunst | Nahkampfwaffen |
Rüstung und Kettenhemden | […] Schusswaffen | Panzer | Coilguns“ – dies alles
scheint also zum Aufbau einer Zivilisation unabdingbar; wir planen bei ihrem
Aufbau gleich ihre Zerstörung im nächsten Zyklus mit ein. Der Abschnitt „Mensch“
enthält Seiten zu „Atmung | Meditation | Selbstoptimierung | Yoga | Qigong |
Träume | Psychotherapie“; leider wird uns nicht wirklich erklärt, wie wir unsere
Träume wieder aufbauen werden, aber dass es auch in der kommenden Zivilisation
Psychoanalytiker (Sigmund Freud wird explizit abgebildet) geben wird, ist
natürlich beruhigend.

Man merkt rasch, dass das Ganze in der Hauptsache von der Seite des oder der
Graphiker her entworfen worden ist. Angenehm ist, dass der bei der Vorstellung
von Zivilisation sich leicht einstellende Eurozentrismus wenigstens abgemildert
ist, wenn auch der sogenannte Globale Süden natürlich zu kurz kommt; aber
wenigstens China und Japan sind einigermaßen vertreten. Ein ganz hübsches, wenn
auch gänzlich harm- und inhaltsloses Verschenkbuch, nett anzuschauen, nett zu
vergessen.

The Book. Der ultimative Wegweiser zum Wiederaufbau einer Zivilisation. Köln: WE
MIND PUBLISHING, 2024. Bedruckter Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 409
großformatige Seiten (22,5 cm × 33,5 cm). 120,– €.

Veröffentlicht am 15. November 202415. November 2024Kategorien Anonyme
WerkeSchlagwörter Amerikanische Literatur, Belletristik, Bildbände, Coffee table
books, Zivilisation2 Kommentare zu The Book


BRAM STOKER: DAS GEHEIMNIS DER SEE

Augen, die in der Lage sind, die Oberfläche der Dinge zu durchdringen, können
vielleicht auch sehen, was dahinter vorgeht.



Bram Stoker ist als Schriftsteller das, was in der Musikbrache ein „One Hit
Wonder“ genannt wird. Wie es um seinen Rang als Schriftsteller bestellt ist,
zeigt, dass mehr als eine Biographie über ihn gleich in der Titelei auf seinen
Roman „Dracula“ hinweist, damit der Käufer den Namen auch sicher einordnen kann.
Und es kann ganz eindeutig festgestellt werden, dass Stoker heute, wie so viele
Unterhaltungsschriftsteller seiner Generation, komplett vergessen wäre, wenn er
nicht in diesem einen Buch zufällig auf einen Archetyp des kindlichen Gruselns
gestoßen wäre.

Nun hat sich der mare Verlag, der auf Bücher über das Meer ein wenig
spezialisiert ist, entschlossen, Stokers „Das Geheimnis der See“ von 1902
herauszugeben; ich vermute fast, dass es sich um die Erstübersetzung des Romans
handelt – und so ist er denn auch. Das Buch stellt nach dem Motto des
Goetheschen Theaterdirektors „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“
eine Melange aus allen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert populären Formen
der Unterhaltungsliteratur dar: ein wenig Schauerroman mit Geistern und 2.
Gesicht, ein wenig Liebesroman mit einer reichen amerikanischen Erbin, ein wenig
historischer Roman um die Spanische Armada (die reiche Erbin heißt auch noch
absichtlich Drake mit Nachnamen), ein wenig politischer Roman um den
Spanisch-Amerikanischen Krieg, ein wenig Verschwörungsroman, in dem die Spanier
versuchen, Miss Drake umzubringen, die sich mit ihrem Geld in den Krieg
eingemischt hat, ein wenig Schatzsuche nach einem verlorenen
spanisch-katholischen Schatz, der von einem Spanier in Schottland versteckt
worden ist, ein wenig Detektiv-Roman, in dem ein äußerst schwieriger Code
geknackt werden muss, um den Ort des Schatzes herausfinden zu können (zum Glück
oder Unglück geht das offenbar nicht mit dem schon erwähnten 2. Gesicht!), ein
wenig Abenteuer-Roman, denn der Schatz kann natürlich nur unter den größten
Gefahren für die beiden Liebenden gehoben werden.

Nun könnte sowas eventuell gelingen, wenn es ein souveräner Schriftsteller mit
der nötigen Ironie versuchen würde, aber leider ist Bram Stoker genau das nicht.
Alle Details des Romans tauchen genau an der Stelle auf, an der sie gebraucht
werden; nicht einmal seine aus äußerster Not zu rettende Herzensdame darf der
Ich-Erzähler wenigstens 20 Seiten vor der Rettung etwa aus einer Kutsche steigen
sehen. Und dass sich der Erzähler als Kind mit Kryptographie die Zeit vertrieben
hat, erfahren wir keine einzige Zeile früher, als er mit seiner Meisterleistung
des Codeknackens beginnt, die selbst dann völlig im Allgemeinen bleibt – so kann
jeder Protagonist ein Sherlock Holmes sein. Auch die Dialoge werden über Seiten
hin ohne jegliche Voraussicht vor sich hin erfunden und sind entsprechend
belanglos. Da wundert es dann auch nicht (wenigstens mich nicht), dass Stoker zu
faul war, in den Kalender von 1897 zu schauen und deshalb in der Nacht zum 1.
August einen Vollmond scheinen lässt. Kurz: Das Ding ist eine flüchtig
hingesudelte Scharteke, wie es sie zu jeder Zeit gegeben hat, und wäre besser
vergessen geblieben.

Einzig zu loben ist die Ausstattung des Bandes: Der bedruckte Leinenband mit
Fadenheftung nimmt die Gestaltung der englischen Erstausgabe auf und liegt gut
in der Hand. Wenn nur der Rest danach wäre!

Bram Stoker: Das Geheimnis der See. Aus dem Englischen von Alexander Pechmann.
Hamburg: Mare, 2024. Bedruckter Leinenband im Schuber, Fadenheftung,
Lesebändchen, 539 Seiten. 48,– €.

Veröffentlicht am 10. November 202411. November 2024Kategorien Bram Stoker,
Alexander PechmannSchlagwörter 19. Jahrhundert, 20. Jahrhundert, Abenteuerroman,
Abgebrochene Lektüren, Belletristik, Englische Literatur, Schauerroman,
Trivialliteratur, Unfug6 Kommentare zu Bram Stoker: Das Geheimnis der See


WILHELM RAABE: UNRUHIGE GÄSTE

Eine fatale Geschichte! wahrhaftig, eine nette Dorfidylle!



„Unruhige Gäste“ ist ein später, kurzer Roman Wilhelm Raabes und wurde 1885 im
populären Familienblatt „Die Gartenlaube“ in zwölf Folgen veröffentlicht; im
Jahr darauf erschien die Buchausgabe bei Grote in Berlin. Mit der
Fortsetzungsausgabe erreichte der „Roman aus dem Säkulum“ – so die vom Autor
gewählte Genrebezeichnung – ein für Raabe vergleichsweise breites Publikum, das
den Roman anfänglich zumeist positiv aufnahm, mit dem Ende aber nicht recht
zufrieden war; ich werde noch darauf zurückkommen.

Die Handlung spielt in den 1880er Jahren in einem Minendorf im Harz und einem im
Tal darunter gelegenen Kurort, für den offenbar Bad Harzburg das Vorbild war.
Über den Charakter des Städtchens als Badeort macht sich Raabe, der Bad Harzburg
aus eigenem Erleben kannte, ein wenig lustig:

> Dieser beliebte Badeort für Gesunde hatte selten eine so gute Gesellschaft wie
> diesmal um seine unschädlichen Quellen versammelt gesehen.
> 
> S. 90

Zu dieser guten Gesellschaft gehört auch eine Gruppe um Professor Freiherr Veit
von Bielow, der das Bad offenbar mit seiner Verlobten in spe Valerie, deren
Vater und einer Gruppe von jungen Leuten besucht. Beim Ausflug in das in den
Bergen gelegene Dorf macht er einen Abstecher ins Pfarrhaus, um dort seinen
ehemaligen Kommilitonen, den in Gott verbitterten Pastor Prudens Hahnemeyer
aufzusuchen, den er seit der Studienzeit nicht mehr gesehen hat. Hahnemeyer lebt
zusammen mit seiner Schwester Phöbe, einer 20-jährigen Lehrerin und
Krankenpflegerin, die sich in der Gemeinde und im Pfarrhaus nützlich macht. Den
eigentlichen Erzählanlass bildet der Tod von Anna Fuchs, die gerade an dem Tag
stirbt, als von Bielow im Dorf eintrifft. Anna Fuchs war am Typhus erkrankt und
wurde zusammen mit ihrem im Dorf ohnehin nur mäßig beliebten Mann Volkmar und
ihren beiden Kindern zu einer ärmlichen Existenz in einer notdürftigen Hütte am
Dorfrand gezwungen. Nun will man die Tote möglichst rasch unter die Erde
bringen, doch Volkmar in seiner Trauer und seinem Zorn auf die Gemeinde
verweigert die Herausgabe der Toten, die er lieber im Wald verscharren will, als
es zuzulassen, dass sie zusammen mit jenen, die sie verachtet haben, auf einem
Friedhof liegen soll.

Es gibt nun mehrere Versuche, Fuchs zur Vernunft zu bringen, die aber alle
scheitern: Weder die Drohungen des Ortsvorstehers, noch die Ermahnungen des
Pastors helfen; erst als Phöbe, die sich aufopferungsvoll um die Kranke
gekümmert hatte, zusammen mit von Bielow noch einmal die Hütte aufsucht, gelingt
der Durchbruch, als von Bielow spontan anbietet, drei nebeneinanderliegende
Grabstellen zu erwerben, in denen Anna – in der Mitte – bewacht von Phöbe und
ihm selbst die letzte Ruhe finden soll. Völlig überrascht und überwältigt von
der Zustimmung Volkmars zu diesem Vorschlag, erklärt sich auch Phöbe
einverstanden. Nach der Beerdigung geht von Bielow wieder hinab in den Kurort zu
der Gesellschaft, zu der er gehört.

Damit beginnt die zweite Hälfte des Romans, in deren Zentrum die Erkrankung von
Bielows am Typhus steht. Wieder im Kurort angekommen, muss von Bielow sehr rasch
und gegen seinen Willen die Geschichte um das Begräbnis der Anna Fuchs und der
dreifachen Grabstelle erzählen. Valerie ist von dieser Festlegung von Bielows
auf eine letzte Ruhestätte so betroffen und in Furcht versetzt, dass sie selbst
hinauf ins Dorf reitet, Volkmar und Phöbe – in der sie eine Konkurrentin um die
Liebe von Bielows zu haben fürchtet – kennenlernt und sich den Friedhof zeigen
lässt. Es kommt zu einer Art von Aussprache zwischen den beiden Frauen, und als
Valerie abends ins Tal zurückkommt, muss sie erfahren, dass inzwischen von
Bielow selbst an Typhus erkrankt ist.

Merkwürdigerweise wird nun nicht das Klischee umgesetzt, dass sich Valerie am
Krankenbett Veits zum großen, entsagenden Vorbild der Phöbe hinauf arbeitet,
sondern ganz in Gegenteil flieht die Gesellschaft um Valerie den Kurort, von
Bielow wird in ein aufgelassenes Siechenspital am Rande des Städtchens verbannt
und dort vom lokalen Doktor, Phöbe und Dorette – einer spät eingeführten, aber
nichts weniger als unbedeutenden Nebenfigur – gepflegt. Nur dass Veit von Bielow
dem Tod entgeht und nach einer Woche Phöbe wieder ins Pfarrhaus zurückkehrt,
wird uns erzählt. Und dann schließt Raabe einen ganz merkwürdigen Schluss an: Im
nächsten Frühjahr erreichen das Pfarrhaus zwei Briefe. Zum einen von Dorette an
Phöbe, in dem ein schlichtes Gemüt die Erlebnisse der Woche der Pflege von
Bielows und die Freundschaft der beiden Frauen reflektiert. Zum anderen von dem
in Sizilien sich nur langsam erholenden Veit von Bielow und seiner Gattin
Valerie, die ihre Flitterwochen zu einem Genesungsurlaub verlängert haben.

Wer die Romane kennt, die im Umfeld um „Unruhige Gäste“ entstanden, wird
begreifen, dass ein Gutteil der Leser der „Gartenlaube“ mit einem solchen Ende
nur wenig zufrieden sein konnten. Weder wird der durch die Flucht Valeries
inszenierte Konflikt auch nur angesprochen, sondern die beiden werden einfach
verheiratet, noch findet die aufopferungsvolle Liebe Phöbes, die durch die
Persönlichkeit von Bielows doch für den Moment heftig aus dem Gleichgewicht
geraten war, eine Auflösung. Stattdessen wird Volkmar Fuchs zu einem angesehenen
Mitglied der Gemeinde, nachdem er – offenbar durch die Protektion von Valeries
Vater – zu einer Anstellung als Forstwart gekommen ist. Aber eine der üblichen,
kunstfertigen Abrundungen darf von Raabe im Ernst nicht erwartet werden.

Neben dem hier Nacherzählten hat der Roman noch die eine und andere knorrige
Nebenfigur, wie man sie ähnlich nur in den Romanen von Charles Dickens finden
wird. Für seine nur knapp 180 Seiten macht das Buch ein erstaunlich breites
Gesellschaftspanorama auf. Und es enthält viel von der Welt, wie sie sich Raabe
gezeigt hat.

> Jeder für den Mist vor seine Kellerlöcher, und unser Herrgott fürs Ganze!
> 
> S. 158

Wilhelm Raabe: Unruhige Gäste. Ein Roman aus dem Säkulum. In: Werke. Kritische
kommentierte Ausgabe. Göttingen: Wallstein, 2024. Pappband, Fadenheftung, 235
Seiten. 26,– €.

Veröffentlicht am 3. November 20243. November 2024Kategorien Wilhelm
RaabeSchlagwörter 19. Jahrhundert, Belletristik, Deutsche Literatur,
Gesellschaftsroman, Krankheit, Realismus, Tod, Typhus, WerkausgabenSchreibe
einen Kommentar zu Wilhelm Raabe: Unruhige Gäste


ALEXANDRE DUMAS: GEORGES

Der Zufall hatte es glücklich gefügt, …



Mit der Besprechung dieses für ihn vergleichsweise kurzen Romans beende ich
vorerst meine kleine Dumas-Reihe. Er ist 1843 veröffentlicht worden und spielt
auf Mauritius, einer Insel, die im 18. und 19. Jahrhundert wechselhafte
koloniale Herrscher hatte. Der Handlungsknoten wird im Jahr 1810 bei der
Eroberung der Insel durch die Engländer geknüpft: Pierre Munier, einer der
reichsten Plantagen-Besitzer der Insel, wird von seinen rein
europäisch-stämmigen Kollegen als Mitstreiter gegen die anrückenden Engländer
abgelehnt, obwohl er sich dann im Kampf natürlich aufs Beste bewährt und
überhaupt der tollste Kerl ist. Nach einem Konflikt seiner beiden Söhne mit dem
Sohn des Anführers der Europäer, entzieht er die beiden weiteren
Drangsalierungen, indem er sie nach Europa zur Erziehung schickt. Vierzehn Jahre
später kehren beide nach Mauritius zurück, der eine als vollendeter Gentleman,
der andere als Pirat und Sklavenhändler.

Der Titelheld Georges reist gleich zusammen mit dem englischen Gouverneur an und
bleibt zuerst unerkannt. Wie schon gesagt, ist er der vollendete Gentleman, der
alle Charaktereigenschaften, die es dafür braucht, in sich vereint: Reichtum,
Araberhengste und Arroganz. Nach eigener Aussage ist er nach Mauritius
zurückgekommen, um ein Vorurteil zu bekämpfen; wie er das machen will, bleibt
ihm selbst, dem Autor und den Lesern vollständig unverständlich. Tatsächlich
erklärt er Sara, der Cousine und Verlobten seines Kindheits-Feindes, nach nur
drei Begegnungen (bei deren einer er ihr immerhin das Leben rettet, als sie vom
Autor dazu bestimmt scheint, von einem Hai gefressen zu werden) ihre weibliche
Vollkommenheit und seine ewige Liebe. Der folgende Heiratsantrag wird, wie
erwartet, von ihrem Onkel abgelehnt. Und nun nimmt das Schicksal erbarmungslos
seinen Lauf.

Dazu gehört ein Sklavenaufstand, dessen Ausgang eines der übelsten rassistischen
Klischees bedient, die man in der Weltliteratur finden wird. Es ist überhaupt
ein Witz, dass diese Abenteuer-Scharteke als der politische Roman Dumas’
beworben wird. Sicherlich möchte Dumas ganz pro domo Menschen mit nicht
vollständig europäischer Herkunft wie Europäer behandelt wissen, solange sie
reich und gebildet genug sind, um zur feinen Gesellschaft dazuzugehören, aber
weder hat er grundsätzliche Probleme mit der Sklaverei und dem Sklavenhandel
noch hält er die Masse der Sklaven „von Natur aus“ für derselben Ehre fähig.

Ein üblicher Abenteuer-Roman des 19. Jahrhunderts, eher schlecht als recht
konstruiert, mit einem oberflächlich kritischen Anstrich, ohne dass es
tatsächlich zur Kritik oder auch nur Darstellung konkreter sozialer Verhältnisse
kommt. Alles, was an Elend und Ungerechtigkeit im Roman vorkommt, scheint eine
Frage der Ehre, nicht der moralischen, sozialen und monetären Verhältnisse zu
sein. Natürlich wohnen die Sklaven in Hütten, die der Sturm einfach wegfegt,
aber wenige Tage später können sie schon wieder fröhlich feiern und saufen. Ganz
und gar fürchterlich!

Alexandre Dumas: Georges. Aus dem Französischen von Friedrich Ramhorst (1890).
Berlin: Comino, 2020. Broschur, 224 Seiten. 12,90 €.

Veröffentlicht am 19. Oktober 202419. Oktober 2024Kategorien Alexandre Dumas
(père), Friedrich RamhorstSchlagwörter 19. Jahrhundert, Abenteuerroman,
Belletristik, Französische Literatur, Mauritius, Rassismus, Sklaverei,
TrivialliteraturSchreibe einen Kommentar zu Alexandre Dumas: Georges


ALEXANDRE DUMAS: DIE DREI MUSKETIERE

»Nun«, sprach Rochefort, »das ist abermals so ein Zufall, der dem anderen die
Stange halten kann. […]«



Dieser Fortsetzungsroman entstand 1844 unmittelbar vor „Der Graf von Monte
Christo“, und fällt im direkten Vergleich mit diesem deutlich ab. Zwar nimmt das
Buch im letzten Viertel deutlich an Fahrt auf, und seine Konstruktion wird
subtiler, aber es erreicht nicht die dichte Verflechtung seines Personals in die
zentrale Intrige (hier sind es am Ende gleich zwei Intrigen, die über die
Strecke helfen müssen), die „Der Graf …“ auszeichnet. Es fehlt ein sich über den
gesamten Text erstreckender Plan; der Mittelteil der Erzählung besteht in der
Hauptmasse aus rein anekdotischem Füllstoff, der die Leser unter- und hinhalten
soll, bis es Zeit ist, das durchaus furiose Ende auszupacken.

Mit „Die drei Musketiere“ liefert Dumas ein französisches Pendant zu dem in
England von Walter Scott erfolgreich begründeten Historischen Roman, der eine
sogenannte spannende Handlung vor einen historischen Hintergrund setzt, der den
Lesern mehr oder weniger vertraut ist. Bei Dumas dient dazu die Regierungszeit
Ludwig XIII., den er ganz traditionell als einen schwachen König unter der
Fuchtel des intriganten Kardinals Richelieu vorführt. Der Handlungszeitraum sind
die Jahre 1625 bis 1628; der zweite Teil der Handlung fällt in die Zeit der
Belagerung von La Rochelle.

Im Zentrum der Handlung steht der junge Gascogner d’Artagnan, der sich aufmacht,
um in Paris Musketier zu werden, und dessen hauptsächliche Charaktereigenschaft
ist, sich bei jeder Gelegenheit zu duellieren. Auf diese Weise macht er auch
Bekanntschaft mit dem titelgebenden Trio Athos, Porthos und Aramis, mit denen
zusammen er sogleich in eine staatsumstürzende Intrige verwickelt wird.
Besonders dieser erste Teil der Erzählung ist zahlreich verfilmt worden; auf
eine Verfilmung des zweiten, dunkleren und voraussetzungsreicheren Teils hat man
in der Regel klugerweise verzichtet. Allerdings muss man Dumas einräumen, dass
seine Einbeziehung der Ermordung des Herzogs von Buckingham in die Handlung, so
unwahrscheinlich seine Konstruktion auch immer sein mag, ein kleines
schriftstellerisches Meisterstück bildet. Ansonsten ist auch diesem Buch die
Geschwindigkeit anzumerken, mit der Dumas arbeiten musste, so dass es
Flüchtigkeitsfehler – so wird etwa d’Artagnan gleich zweimal zum Musketier
gemacht (S. 360 und 544) – bis in die Buchausgabe geschafft haben.

Dumas hat zu diesem Erfolgsroman gleich zwei Fortsetzungen von jeweils etwa
gleicher Länge geliefert – „Zwang Jahre später“ (1845) und „Der Vicomte von
Bragelonne“ (1847) –, mit denen er dem Interesse des Publikums des 19.
Jahrhunderts an Historischen Romanen entgegenkam. Ob ich diese Teile, die ich
nicht bereits gelesen habe, ebenfalls hier besprechen werde, ist derzeit noch
nicht entschieden.

Es ist in jedem Fall zu empfehlen, „Die drei Musketiere“ vor oder mit einigem
Abstand zu „Der Graf von Monte Christo“ zu lesen; man kann alternativ auch die
Kapitel 29 bis 42 getrost querlesen, ohne viel zu versäumen. Auch dieser Ausgabe
liegt die Übersetzung von August Zoller (1845) zugrunde, die hier ebenfalls
modernisiert, aber nicht gekürzt wurde.

Alexandre Dumas: Die drei Musketiere. Aus dem Französischen von August Zoller.
Neu überarbeitet von Michaela Meßner. dtv 14765 (Neuausgabe 2020). München: dtv,
22024. Broschur, 748 Seiten. 15,– €.

Veröffentlicht am 13. Oktober 2024Kategorien Alexandre Dumas (père), Michaela
Meßner, August ZollerSchlagwörter 17. Jahrhundert, 19. Jahrhundert,
Belletristik, Fortsetzungsromane, Französische Literatur, Historische Romane,
Trivialliteratur, WiedergelesenesSchreibe einen Kommentar zu Alexandre Dumas:
Die drei Musketiere


DAVID GERROLD / LARRY NIVEN: DIE FLIEGENDEN ZAUBERER

Purpur stand außerhalb aller menschlichen Erfahrung. Das Unglück war geschehen,
weil wir ebenso falsche Vorstellungen über ihn hatten wie er über uns.



Bei der Suche nach einer der nächsten Lektüren bin ich in einer zweiten Reihe
auf lang vergessene Science-Fiction-Bücher gestoßen, die ich offensichtlich beim
letzten Umzug vor über 20 Jahren nicht entsorgen wollte, die aber auch nicht in
den Vorzug kamen, in der ersten Reihe des Regals aufgestellt zu werden. Darunter
finden sich auch vier Romane von David Gerrold, der – als ich so etwas noch
hatte – einer meiner liebsten Science-Fiction-Autoren gewesen ist. Gerrolds
Bücher, oft mit Co-Autoren verfasst, zeichnen sich fast immer durch
ungewöhnliche Themen oder zumindest ungewöhnliche Perspektiven auf klassische
Themen der Science-Fiction aus; bei dem hier besprochenen „Die fliegenden
Zauberer“ kommt hinzu, dass es sich um einen der seltenen humoristischen Romane
des Genres handelt.

Erzählt wird aus der Ich-Perspektive eines Bewohners eines wahrscheinlich weit
von der Erde entfernten Planeten. Der Planet befindet sich in einem
Doppelsternsystem, das wiederum von einer dichten Wolke kosmischen Staubs
umgeben ist, so dass die Bewohner des Planeten über ihr Planetensystem hinaus
nichts vom Universum wissen. Erzählanlass ist die Landung einer Raumfähre, die
einen einzelnen Menschen auf den Planeten bringt, vorgeblich einen
Anthropologen, der sich allerdings als das dümmstmögliche Exemplar seiner Zunft
erweist. Purpur, wie die Eingeborenen den Menschen aufgrund eines
Übersetzungsfehlers von dessen Universalübersetzer nennen (der Witz wird auf den
letzten 50 Seiten dann noch erklärt), wird aufgrund seiner technischen
Überlegenheit sogleich der Zunft der Zauberer zugeordnet, was ihn dummerweise in
direkte Konkurrenz mit dem lokalen Zauberer Shoogar bringt. Dieser sieht sich
durch die Tradition zu einem Zauber-Duell genötigt, in dessen Verlauf er die
Raumfähre Purpurs zerstört; Purpur verschwindet in der stark beschädigten Fähre
Richtung Süden.

Als unangenehmer Nebeneffekt des Duells wird auch das Dorf der Einheimischen und
dessen Umgebung weitgehend unbewohnbar, und die Dorfbewohner ziehen ebenfalls
nach Süden, vor dem in dieser Jahreszeit stetig steigenden Meer fliehend. Nach
langer Zeit treffen sie auf ein Dorf und – was für ein Zufall! – Purpur, der mit
seiner abstürzenden Fähre den Dorf-Zauberer getötet und seine Stelle eingenommen
hat. Purpur spricht inzwischen die lokale Sprache einigermaßen fließend; sein
Hauptproblem besteht darin, dass er sich zu weit südlich befindet, um sein
Mutterschiff zur Landung zu veranlassen (offenbar befindet er sich komplett
allein auf einer interstellaren Forschungsreise!). Da sich nach Norden hin
inzwischen das Meer ausgebreitet hat, kommt er zu der Einsicht, dass er ein
Fluggerät bauen muss, um weit genug in den Norden zurückkehren zu können. (Alle
diese Voraussetzungen sind etwas dünn, denn die Einheimischen verfügen durchaus
schon über Boote; diese entsprechend weiterzuentwickeln, wäre sicherlich
einfacher als das, was Purpur nun unternimmt.) Die fortgeschrittenste Maschine,
die Purpur vorfindet, ist das Fahrrad. So beginnt er zusammen mit den beiden
Fahrradbauern Wilville und Orbur (die Wortspiele sind Absicht!) eine
steuerbares, durch Wasserstoff-Ballons in der Luft gehaltenes Luftschiff zu
entwickeln, für dessen Herstellung aber die gesamte lokale Kultur
industrialisiert werden muss. Dies ist das eigentliche Thema des Romans.

Der genaue Ablauf und die zu überwindenden Schwierigkeiten müssen hier nicht
geschildert werden. Der Roman arbeitet nach dem nur zu verbreiteten Muster „was
wahrscheinlich passiert, wenn etwas Unwahrscheinliches passiert“, führt sein
Thema aber leicht und angenehm durch und ist auch nach über 50 Jahren immer noch
eine witzige und intelligente Lektüre für ein Wochenende. Das englische Original
ist lieferbar; die deutsche Übersetzung derzeit bloß als eBook bzw.
antiquarisch. Für alle, die Gerrold nicht oder nur als Script-Autor des
Star-Trek-Univers kennen, auf jeden Fall ein Tipp.

David Gerrold & Larry Niven: Die fliegenden Zauberer. Übersetzt von Yoma Cap.
Heyne SF 3489. München: Heyne, 1976. Broschur, 352 Seiten. Derzeit nur als eBook
für 7,99 € lieferbar.

Veröffentlicht am 11. Oktober 2024Kategorien David Gerrold, Larry Niven, Yoma
CapSchlagwörter 20. Jahrhundert, Amerikanische Literatur, Anthropologie,
Belletristik, Humor, Industrialisierung, Science-Fiction,
WiedergelesenesSchreibe einen Kommentar zu David Gerrold / Larry Niven: Die
fliegenden Zauberer


ALEXANDRE DUMAS: DER GRAF VON MONTE CHRISTO

»Merken Sie sich Herr Intendant«, entgegnete er, »daß alles und immer an
denjenigen verkauft wird, der den rechten Preis zu bezahlen vermag.«



Dass dieser Roman hier frech unter der Rubrik Wiedergelesenes angezeigt wird,
ist wahrlich eine Übertreibung. In der mütterlichen Bibliothek fand ich eine
Ausgabe des Romans, die so um die 400 Seiten gehabt haben dürfte und die von
einem Burkhard Busse angeblich „in Sprache u. Orthographie in e. zeitgemäße Form
gebracht“ worden war. Die hier vorgestellte „vollständige Ausgabe“ – ob diese
Beschreibung tatsächlich zutrifft, ist bei dtv auf Anhieb nicht immer zu
entscheiden – verfügt über knapp 1.500 und noch dazu eng bedruckte Seiten.
Grundlage ist wohl die Zollersche Übersetzung von 1846, die also unmittelbar
nach dem Erscheinen des Romans im französischen „Journal de Débats“ erfolgte,
was noch heute eine Vorstellung davon gibt, was für eine Sensation der Roman bei
seinem Erscheinen gemacht haben muss.

Was das Buch erzählt, ist einerseits rasch zusammenzufassen: Der Seemann Edmond
Dantès aus Marseilles gerät aufgrund seiner Naivität ungewollt in die
Verschwörung um Napoleons Rückkehr von der Insel Elba und wird durch ein
Zusammentreffen boshaft herbeigeführter Umstände vom stellvertretenden
Staatsanwalt in Marseilles ohne Prozess zu einer zeitlich unbegrenzten Haft auf
einer Gefängnisinsel verurteilt. Als er nach 14 Jahren endlich fliehen kann,
gerät er durch einen weiteren Zufall in den Besitz eines potenziell unbegrenzten
Vermögens, mit dessen Hilfe er seine Rache in Szene zu setzen beginnt. Nach etwa
einem Drittel erreicht Dantès als Graf von Monte Christo, einer seiner drei
hauptsächlichen Tarnidentitäten, Paris, wo der mehr als erfolgreiche Vollzug
seiner Rache an den vier Hauptbeteiligten beinahe den kompletten Rest des Romans
füllt. Andererseits müsste man, um den zum Teil haarsträubenden Beziehungen und
Verwicklungen der Figuren und Ereignisse zu- und untereinander gerecht zu
werden, zahlreiche Seiten füllen. Das Buch strotzt nur so von
Unwahrscheinlichkeiten – selbst Dumas macht sich auf den letzten Seiten über
diese Zumutung lustig –, die als ein von Dantès’ langer Hand ausgetüftelter Plan
verkauft werden. Dantès versteht seine Rache dabei als Mission from God (dies
dürfte einer der offensichtlichen Gründe gewesen sein, weshalb Dumas’ Schriften
1863 auf dem Index gelandet sind), woran ihm zwar zwischenzeitlich Zweifel
kommen, von denen ihn aber sein Autor glücklich gleich wieder befreien kann.

Der Umfang des Buches ergibt sich nicht nur aus den Verwicklungen der Handlung,
sondern auch daraus, dass sich Dumas als ein Meister der Retardation erweist:
Immer wieder tauchen neue Figuren im Text auf, denen auf umständlichste Weise
erklärt werden muss, was bisher geschah (manche Episoden der Fabel werden gleich
vier- oder fünfmal erzählt); alle Gespräche werden auf die umständlichste aller
möglichen Weisen geführt (die Spitze stellt wahrscheinlich das Gespräch zwischen
Dantès und Maximilien in Kapitel 94 dar, in dem der junge Liebhaber Maximilien
von seiner vergifteten Liebe Valentine zu Monte Christo um Hilfe eilt, nur um
zuerst seitenweise belangloses Gewäsche zu erzeugen, bis er auf den Punkt kommen
kann); Handlungsfäden werden auf komplizierteste Weise in Gang gesetzt, nur um
dann kurz vor ihrem Abschluss noch einmal umgebogen und in eine andere Richtung
weiterentwickelt zu werden und was der Späße mehr sind. Wenn man als Leser nicht
atemlos dem Abenteuer folgt, sondern sich den Spaß macht, die Absicht all dieser
Verzögerungen und Windungen zu verstehen – immer noch mehr Seiten und damit
Honorar aus der ohnehin schon viel zu langen Handlung zu schlagen! –, ist das
Ganze nicht ohne Vergnügen zu lesen, wie trivial und unwahrscheinlich es auch
sein mag. In summa: Einerseits eine hanebüchene Handlung, die im Detail immer
wieder unter der notwendigen Flüchtigkeit ihres zu viel und viel zu schnell
schreibenden Autors leidet, andererseits eine auch entgegen aller
Wahrscheinlichkeit faszinierende Konstruktion.

Neben diesem formalen Aspekt dürften der Anschluss an die historischen
Ereignisse der jüngsten Vergangenheit und Dumas’ karikierende Zeichnung der
Pariser besseren Gesellschaft wesentlich zu dem Erfolg des Romans beigetragen zu
haben: Dantès wird unmittelbar Opfer einer Gesellschaft, die die Verwerfungen
ihrer eigenen Zeitgeschichte so weit wie möglich unter den Teppich kehren
möchte, um den Ablauf ihrer Geschäfte und Karrieren nicht zu stören. Und er
benutzt für seine Rache die Strukturen eben dieser Gesellschaft, in der es an
der Oberfläche um Ehre und Ansehen, im Wesentlichen aber immer nur um Geld geht.
Dumas erfüllt mit diesem Zeitportrait die beinahe schon moderne Maxime, Kunst
gerade dort zu machen, wo man sie am wenigsten erwartet.

Der Roman verdient, in seiner ganzen Komplexität und Trivialität gelesen zu
werden. Ich rate daher dringlich davon ab, eine der gekürzten bzw. bearbeiteten
Ausgaben zu lesen oder sich mit einer der wirklich zahlreichen Verfilmungen
zufrieden zu geben. Wer ein echtes Meisterstück des Fortsetzungsromans – einer
der wichtigsten Romanformen des 19. Jahrhunderts – erleben will, greife zu einer
möglichst vollständigen Ausgabe wie dieser.

Alexandre Dumas: Der Graf von Monte Christo. dtv 13955. München: dtv, 72019.
Broschur, 1495 Seiten. 20,– €.

Veröffentlicht am 25. September 2024Kategorien Alexandre Dumas (père), Thomas
Zirnbauer, August ZollerSchlagwörter 19. Jahrhundert, Belletristik,
Fortsetzungsromane, Französische Literatur, Gesellschaftsroman, Rache, Recht und
Gerechtigkeit, Trivialliteratur, Wiedergelesenes5 Kommentare zu Alexandre Dumas:
Der Graf von Monte Christo


WOLFGANG WILL: DER ZUG DER 10 000

Wer die Welt als Spiel versteht, das nach den Regeln der Götter geführt wird,
braucht keine Analyse des Geschehens mehr […].



Drei Jahre nach seinem Buch über Thukydides und den Peloponnesischen Krieg
veröffentlichte Wolfgang Will den sich natürlich ergebenen Nachfolger: eine
kritische Nacherzählung der „Anabasis“ des Xenophon aus der Sicht des heutigen
Historikers. Ergänzt wird diese Nacherzählung um zwei Anhänge: einen über das
Leben Xenophons nach dem Zug durch Kleinasien und einen Epilog, der ein sehr
kompaktes komplettes Lebensbild Xenophons entwirft. Das Hintanstellen der
Kurzbiographie ergibt sich logisch aus dem Bedürfnis, nichts aus dem Gang der
Nacherzählung vorwegzunehmen.

Im Wesentlichen also erzählt das Buch vom Zug eines griechischen Söldnerheeres
unter Kyros dem Jüngeren, einem persischen Prinzen, der mit diesem Heereszug
durch Kleinasien im Jahr 401 v.u.Z. versucht, die Herrschaft seines älteren
Bruders Artaxerxes II. zu stürzen und selbst persischer Großkönig zu werden. Die
Expedition scheitert kurz vor Babylon in der Schlacht von Kunaxa, die die
überlebenden griechischen Söldner weitgehend führerlos zurücklässt. Während
Xenophon auf dem Hinmarsch (der eigentlichen Anabasis) das Heer als ziviler
Beobachter begleitet, wächst ihm nach der Schlacht mehr und mehr eine
Führungsrolle im Söldnerheer zu, das sich nun nach Norden wendet und gegen
widrigste Umstände versucht, das Schwarze Meer zu erreichen. Xenophon hatte in
der athenischen Reiterei eine militärische Ausbildung genossen, so dass ihm die
Welt des Militärs alles andere als fremd war. Sein Führungstalent beweist sich
an der fast unmöglich scheinenden Aufgabe, die griechischen Söldner in ihre
Heimat zurückzuführen.

Sicherlich ist vieles im Buch repetitiv, aber dies ergibt sich notwendig aus dem
Erzählten, das sich im Hauptteil über einen Zeitraum von 18 Monaten erstreckt,
in denen die Söldner immer und immer wieder in ernste Gefahr geraten.
Nichtsdestotrotz bewährt sich Will einmal mehr als historischer Erzähler, der
den Gang der „Anabasis“ konzise darzustellen weiß. Auch für dieses Buch gilt
aber, dass es auf Leser abzielt, die sich in der antiken Welt bereits ein wenig
auskennen; den Neuling könnte es überfordern. Eine durchweg gelungene
Fortsetzung der vorangegangenen Bücher.

Wolfgang Will: Der Zug der 10 000. Die unglaubliche Geschichte eines antiken
Söldnerheeres. München: C. H. Beck, 2022. Pappband, 314 Seiten. 28,– €.

Veröffentlicht am 12. August 202412. August 2024Kategorien Wolfgang
WillSchlagwörter Antike Literatur, Antike, Biographisches, Deutsche Literatur,
Geschichte/Politik, Geschichtsschreibung, Kleinasien, Krieg, XenophonSchreibe
einen Kommentar zu Wolfgang Will: Der Zug der 10 000


JOSEPH CONRAD: NOSTROMO

Jedem sein eigenes Schicksal, geformt von Leidenschaft und Empfindung.



Zum 100. Todestag Joseph Conrads legt Manesse seinen Roman „Nostromo“ (1904) in
einer neuen Übersetzung vor. Bereits Conrad selbst hatte das Gefühl, der Roman
habe eine neue Epoche in seinem Erzählen eingeleitet, und viele Kritiker sind
dieser Einschätzung gefolgt. Der Roman ist denn auch ungewöhnlich genug geraten
und braucht eine ganze Weile, bis er in Fahrt kommt, nur um dann seine rattlin’
good story plötzlich wieder abzubrechen und zu einem mehr historisierenden
Erzählen zurückzukehren.

Erzählt wird im Wesentlichen von den Ereignissen in und um Sulaco herum, einer
fiktiven Hafenstadt im ebenso fiktiven südamerikanischen Staat Costaguana (was
soviel wie Palmenküste heißen kann; allerdings hat guano auch noch eine andere
Bedeutung). Costaguana zerfällt in eine Zentral- und eine Westprovinz, die durch
einen hohen, unwegsamen Gebirgszug voneinander getrennt sind. Sulaco ist zu
Zeiten der Segelschiffe aufgrund seiner sehr windstillen Bucht ein eher
verschlafener Hafen von untergeordneter Bedeutung, bekommt aber durch die
aufkommende Dampfschifffahrt und die erfolgreiche Wiedereröffnung einer lokalen
Silbermine eine ganz neue Bedeutung. Die Lizenz zur Ausbeutung der Mine hat
Charles Gould, der als Kind in Europa erzogen worden ist und dort auch studiert
hat, von seinem englischstämmigen costaguanischen Vater geerbt, und die Mine zu
einem Erfolg zu machen, ist ihm ein wenig zur fixen Idee geworden.

Doch Costaguana ist politisch instabil, und die in der Zentralprovinz ansässige
rechtsliberale, republikanische Regierung, die selbst durch den Umsturz einer
Tyrannei an die Macht gekommen ist, wird wiederum vom Militär gestürzt. In der
Westprovinz bricht bei den Landbesitzern und Charles Gould eine milde Panik aus.
Zwar schickt man eine zusammen­gewürfelte Armee aus, um sich der Bedrohung
entgegenzustellen, aber die revolutionären Truppen halten sich nicht an den Plan
der Verteidiger, sondern steuern über See und Berge Sulaco und seinen
vermeintlichen Schatz an Silber direkt an. Diesen hat man allerdings kurz vor
Ankunft der feindlichen Truppen auf einen Leichter verladen und in
stockfinsterer Nacht hinaus in die Bucht geschickt, auf dass er in einen
Nachbarstaat gerettet und von dort aus zur Finanzierung der Konterrevolution,
vielleicht sogar zum Erringen der staatlichen Unabhängigkeit der Westprovinz
dienen möge.

Erst mit diesem Rettungsversuch des Schatzes bekommt nach ca. 240 von 520 Seiten
der Titelheld Nostromo endlich seine entscheidende Rolle zugeschrieben. Es
handelt sich um einen genuesischen Seemann namens Giovanni Battista Fidanza, der
in Sulaco gestrandet ist. Dort ist er aufgrund seines großspurigen und
freigiebigen Auftretens und auch wegen seines Erfolgs bei Frauen zu einer Art
Volksheld geworden (bei seinem ersten größeren Auftritt gestaltet Conrad ihn als
einen Operetten-Don-Juan), der allgemein nur unter seinem Spitznamen Nostromo
(einem verschliffenen nostro uomo) bekannt ist. Nostromo, der alles kann und
alles wagt, ist der rechte Mann um den Silberschatz in der Nacht
herauszuschmuggeln; er hat außerdem noch Martín Decoup an Bord, einen
Journalisten und politischen Schwärmer, dem von den heranziehenden Truppen
sicher der Tod droht, und einen Blinden Passagier, der an sich nicht weiter von
Bedeutung ist, aber noch eine entscheidende Nebenrolle zu spielen hat.

Es ist nicht nötig, die eigentliche Handlung zu referieren und so den Erstlesern
die Spannung zu rauben. Wichtig ist nur, dass der Abenteuerroman Episode bleibt.
Vorangegangen ist eine gründliche Historie der jüngsten Vergangenheit
Costaguanas sowie eine ausführliche Schilderung der Hauptcharaktere und ihrer
Vorgeschichten (mit Ausnahme Nostromos, der, wie schon gesagt, in der ersten
Hälfte des Buches beinahe nur als Randfigur vorkommt). Dabei ist diese erste
Hälfte in einer mäandernden Erzählweise verfasst, die sich von Figur zu Figur
hangelt und dabei weder Rücksicht auf eine strenge Chronologie, noch auf
Vollständigkeit zu nehmen scheint. Trotzdem entwickelt sich mit der Zeit ein
reiches und komplexes Bild Sulacos und seines politischen und gesellschaftlichen
Umfeldes. Wie ebenfalls bereits gesagt, endet das Buch ähnlich historisierend
wie es anfängt, wenn auch mit einer dramatischen, kaum vorhersehbaren
Schlusspointe.

Alles in allem ein außergewöhnlicher Roman, der zwischen Fiktion und
alternativer Geschichte, wie man das heute wohl nennt, seinen Weg sucht; ein
geadelter Räuberroman, wenn man so will. Die Neuübersetzung ist angenehm zu
lesen; an keiner Stelle merkt man ihr an, dass sie von zwei Übersetzern erstellt
wurde. Auch haben sich Verlag und Übersetzer nicht dem herrschenden Zeitgeist
gebeugt und heute politisch inkorrekte Ausdrücke, die Conrad wie
selbstverständlich verwendete, abgeschwächt oder gar überschrieben. Auch sind
die den Text durchsetzenden spanischen Wörter stehen geblieben (ein kleines
Glossar am Ende hilft jenen, denen das Spanische fremd ist). Einzig, dass man
den Untertitel “A Tale of the Seaboard” hat entfallen lassen, hat mich ein wenig
irritiert.

Ein durchweg gelungenes Memento zur Feier Conrads!

Joseph Conrad: Nostromo. Aus dem Englischen von Julian und Gisbert Haefs.
Zürich: Manesse, 2024. Bedruckter Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 536
Seiten. 38,– €.

Veröffentlicht am 3. August 20246. August 2024Kategorien Joseph Conrad, Gisbert
Haefs, Julian HaefsSchlagwörter 19. Jahrhundert, Abenteuerroman, Belletristik,
Englische Literatur, Jubiläen, Neuübersetzungen, Revolution, Südamerika,
WiedergelesenesSchreibe einen Kommentar zu Joseph Conrad: Nostromo


WOLFGANG WILL: ATHEN ODER SPARTA

Bei Chaironeia besiegte im Jahre 338 Philipp II. ein Bündnis griechischer
Staaten mit Athen und Theben an der Spitze (Sparta fehlte). Die Hand- und
Schulbücher reden von einem epochalen Ereignis, vom Ende einer Ära und der
griechischen Freiheit. Die Freiheit, welche die Griechen zuallererst verloren,
war freilich nur die, einander sinnlos totzuschlagen.



Dieser Band schließt insofern unmittelbar an Wills vorhergehendes Buch über den
Beginn der Geschichtsschreibung an, als es in der Hauptsache dem Bericht des
Thukydides folgt, um den Peloponnesischen Krieg von seinen Ursachen bis zu
seinen Nachwirkungen darzustellen. Der enge Anschluss an das Werk des Thukydides
ergibt sich von selbst, da dessen Bücher für einen bedeutenden Teil der
historischen Ereignisse die einzige Quelle sind.

Beim Peloponnesischen Krieg (431–404) handelt es sich nicht nur um den Kampf
zweier Hegemonialmächte um die Vorherrschaft in Griechenland, sondern zugleich
um die Frage, ob die athenische Demokratie als politisches System erhalten
bleiben oder dauerhaft durch eine oligarchische Verfassung ersetzt werden wird.
Interessanterweise weist es sich, dass das athenische System der Volksherrschaft
sich immer wieder gegen die zum Teil sehr radikalen Versuche, sie zu
unterdrücken und ihre Anhänger zu töten oder zu verbannen, durchsetzt und die
Oligarchie, für deren Etablierung Sparta neben seinen hegemonialen Ansprüchen
kämpft, immer wieder beseitigen kann. Am Ende zeigt die Demokratie sich, wenn
sie nicht durch andauernde Kriegführung wirtschaftlich geschwächt und von
nationaler Hysterie überlagert ist, als das stabilere und einen allgemeinen
Wohlstand garantierende System.

Will bewährt sich einmal mehr als exzellenter Erzähler historischer Ereignisse
und ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte. Dabei ist seine
Darstellung keine unkritische Nacherzählung des Berichts von Thukydides, sondern
Will weiß seine Vorlage nicht nur im Hinblick auf den Parteistandpunkt ihres
Autors einzuschätzen, sondern erlaubt sich überhaupt eine reflektierte Distanz
zu den Geschehnissen und Akteuren. Hinzukommt eine durchgehende Rückkopplung mit
anderen historischen Quellen, insbesondere den Theaterstücken der Zeit. Bei der
Betrachtung der Nachwirkungen des Krieges gibt es zudem ein beeindruckendes
Kapitel zur politischen Einordnung des Prozesses gegen Sokrates, das zu den
Schmuckstücken des Buches gehört.

Wie schon der Vorgängerband ein Buch, das einige Ansprüche an die Leser stellt.
Für Geschichtsbeflissene und insbesondere für an der Antike Interessierte
unbedingt zu empfehlen.

Wolfgang Will: Athen oder Sparta. Eine Geschichte des Peloponnesischen Krieges.
München: C. H. Beck, 2019. Pappband, 352 Seiten. 26,95 €.

Veröffentlicht am 18. Juni 2024Kategorien Wolfgang WillSchlagwörter Antike
Literatur, Antike, Deutsche Literatur, Geschichte/Politik, Geschichtsschreibung,
Krieg1 Kommentar zu Wolfgang Will: Athen oder Sparta


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AUS DEM ZETTELKASTEN

Her so-called beauty had always been a source of irritation to her. She hated
the fuss and stir it caused, how oddly it made people behave in her presence and
how freakish and set apart it made her feel.

Stephen Fry


TOP BEITRÄGE

 * The Book
 * Bram Stoker: Das Geheimnis der See
 * J. J. Abrams / Doug Dorst: S.
 * Peter Noll: Diktate über Sterben und Tod
 * Sophie von La Roche: Fräulein von Sternheim


DAS KÖNNTE IHNEN AUCH MISSFALLEN

 * Allen Lesern ins Stammbuch (147)
 * Allen Lesern ins Stammbuch (37)
 * Gustave Flaubert: Drei Erzählungen
 * Zum Welttag des Buches
 * Allen Lesern ins Stammbuch (151)


JÜNGSTE KOMMENTARE

 * The Book – Bonaventura bei J. J. Abrams / Doug Dorst: S.
 * bonaventura bei The Book
 * Jochen DK bei The Book
 * bonaventura bei Bram Stoker: Das Geheimnis der See
 * Sören Heim bei Bram Stoker: Das Geheimnis der See


STATISTIK

 * Online seit September 2005;
 * 21.310.824 Hits seit 2007;
 * 499.447 Wörter;
 * 1.175 Beiträge über Bücher von
 * 656 Autor(inn)en und
 * 249 Übersetzer(innen);
 * 1.277 Kommentare.


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